»Wo ich bin, will ich nicht bleiben«
alles. auf. los. Und dann?
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin[1]
alles auf los… – Montag
Das Wochenende ist geschafft. Zeit für eine neue Woche. Ich kann zwar nicht ausschlafen, mir aber zumindest meine (Arbeits-)Zeit frei einteilen, ebenso wie mein Partner. Wir stimmen uns ab, planen die Woche, schauen, wann wessen Kinder da sind (ich: eins, er: zwei), wer was wann arbeiten muss. Patchwork meets Lohnarbeit meets Liebesbeziehung. Als wir uns kennenlernten, haben wir uns irgendwann gesagt, dass wir „all in“ sind. Und dann gemerkt, dass wir das auch so meinen. Was so heroisch klingt, ist manchmal auch einfach sowas wie: Bonuskinder von irgendwo abholen. Sich gemeinsam Sorgen machen. Nie genug Zeit für alle Bedürfnisse, alle Pläne, alle Wünsche zu haben. Gemeinsam heulen, gemeinsam schweigen, gemeinsam motzig sein. Vor allem ist es viel. Alles eben.
Auf dem Weg zum Friseur begleiten mich Gedanken über meine Arbeitssituation. „Wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber…“, so fühlt sich das gerade an. Während mein Pony berlingerecht gekürzt und die Spitzen geschnitten werden, beantworte ich Mails und bereite Dinge für Dienstag vor. Nachmittags sitze ich im Café, spreche über Jobperspektiven, Selbstständigkeit, darüber, was ich mir für mich wünsche. In den letzten zwei Jahren hat sich so viel geändert!(Wie viel zeigt sich übrigens auch darin, dass ich diesen Satz drei Mal schreibe: In den letzten Monaten … / Im letzten Jahr … / In den letzten zwei Jahren … Und alles davon ist richtig. Es fühlt sich an, als sei ich seit zwei Jahren unterwegs, obwohl ich gleichzeitig das Gefühl habe, angekommen zu sein. Vielleicht habe ich endlich so etwas wie eine Homebase, ein Nest, in dem ich erholen kann. Manchmal allein, oft mit anderen um mich herum – egal ob persönlich oder im Geiste. Einen Moment Atem holen, um dann wieder loszugehen.)
Ich will nicht mehr so weitermachen, wie bisher. Gefühlt habe ich jeden Stein in meinem Leben einmal umgedreht und gerade liegt einer vor mir, auf dem sowas wie „berufliche Zukunft“ steht. Mit Fragezeichen. Ich habe ein geisteswissenschaftliches Fach studiert und den Taxifahrer*innen-Witz häufiger gehört als alles andere (ich habe im Studium sogar einen Essay darüber geschrieben). Ich kann vieles gut, habe auf einiges Lust und weiß gerade nicht so richtig, wie ich weitermachen soll. Wie baut man sich etwas auf, was einem selbst noch völlig neu ist? Was nützen mir meine Fähigkeiten, wenn ich nicht genau weiß, wie ich sie am besten einsetze – so, dass ich dann auch davon leben kann? Ich war immer angestellt, habe immer gearbeitet, seitdem ich 18 bin. Wie ist das, sich selbstständig zu machen, sich etwas zu schaffen, in dem man mit den Dingen arbeiten kann, die einen wirklich antreiben? Und welche Dinge sind das genau? So viele Fragen…
Alles auf los? Ein bisschen fühlt sich das auch in diesem Jahr wieder so an. Ich weiß nicht, wohin der Weg führt, aber ich möchte es herausfinden. Dieses Jahr! Loslegen will ich und oft geht mir das alles nicht schnell genug. Ich habe Ideen, ich bekomme sie bloß noch nicht ganz gebündelt. Und ich habe das Gefühl, dass ich nicht allein loslegen will, sondern gemeinsam mit anderen. Und mit Austausch!
Für das Barcamp am Samstag will ich noch einen Text schreiben. Inspirierend, tiefsinnig, berührend. Am besten mit Denkanstößen. Aber nicht heute. Heute ist erst Montag. Zeit genug.
alles auf los! – Mittwoch
Mein freier Tag. Er beginnt ohne Wecker und mit Croissants, perfekt.
Am Dienstag, auf dem Weg zur Arbeit, schrieb ich meinem Partner: „Ich will ein Leben, von dem ich nicht genug bekommen kann. Ein Leben, aus dem ich mich nicht herausträumen muss“. Mit ihm fühlt sich das manchmal genau so an. Jetzt gerade auf jeden Fall. Nur wir beide, gemeinsame Ideen und Pläne. Wenn man ausgeschlafen ist, frei hat und weder Lohn- noch Carearbeit warten, fühlt sich das Leben gleich anders an. Daran werde ich mich wahrscheinlich nie ganz gewöhnen.
Nach dem Frühstück arbeite ich ein bisschen und erledige liegengebliebenes, dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg in ein Café. Dort angekommen sitzen wir zusammen und schreiben. Ich arbeite an (m)einem Essayband; natürlich ist das ’nur‘ Vergnügen, ich bekomme nichts dafür. Dementsprechend ist das im Alltag manchmal ziemlich schwierig einzubauen und oft kaum vor mir selbst zu rechtfertigen. Heute aber geht es. Das liegt an der Gesellschaft und am Ort. Ein Café, in dem es auch Bücher gibt. Und Menschen, die sich unterhalten. Besser als zu Hause, wo ich auch lohnarbeiten, aufräumen, Dinge erledigen könnte, die sein müssen. Hier sind nur ich, mein Schreibzeug und mein Tee.
Sogar Zeit für Musik ist später noch und für ein bisschen ‚im Flow sein‘, was kaum noch vorkommt, seit ich ein Kind und damit für alles feste Zeitfenster habe. Kreativität lässt sich bedingt abrufen, zumindest ein Teil, zumindest von mir, aber einfach tun und ganz im Moment sein können ist natürlich etwas anderes. Ich weiß noch, wie sehr ich das manchmal vermisst habe. Und ich erinnere mich an Gespräche mit meiner besten Freundin, die aus diesem Grund aufgehört hat, zu schreiben: Die ständigen Unterbrechungen, die kleinen Zeitfenster – das hat ihr nicht gutgetan. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, wieder anzuknüpfen. Neues beginnen, Altes mitnehmen und schauen, was eigentlich noch vom eigenen Selbst übrig ist nach langen Jahren, gar nicht so einfach.
Alles auf los? Ich bin bereit. Ich habe Energie, ich habe Lust auf Neues. Losziehen möchte ich, am liebsten sofort. Heute fühlt sich alles ein bisschen an wie eine bessere Version von früher. Vielversprechend, hoffnungsvoll, bereit.
Den Text für Samstag habe ich angelegt und strukturiert. Ich weiß, worum es gehen soll, erste Ideen habe ich schon notiert. Morgen widme ich mich dem Rest! Das wird gut.
alles auf los? – Freitag
Ich stehe zum zweiten Mal in der Schlange der Postfiliale. Vor mir 15 Menschen – eben waren es nur elf. Ich habe eine Nacht mit wenig und schlechtem Schlaf hinter mir und bin heute bereits fünf Stunden Zug gefahren, um meine Tochter fürs Wochenende abzuholen.
Wechselmodell mit 400 Kilometern Entfernung fühlt sich manchmal an wie mit Ankündigung in den Burnout, aber eine Alternative gibt es gerade nicht. Auf der Zugfahrt zurück nach Berlin habe ich mal nachgeschaut, wann und unter welchen Umständen eine Mutter-Kind-Kur für mich in Frage kommt. Und mich sofort gefragt, ob das nicht mehr Stress ist als alles andere – und wann ich überhaupt Zeit dafür hätte. Wenn man keine Energie mehr hat, wie soll man da noch irgendetwas zusätzlich organisieren?
Mein Anliegen bei der Post kann leider auch beim zweiten Versuch „nicht abschließend bearbeitet werden“, wie es so schön bürokratisch heißt. Ich fange nur beinahe an, zu weinen (das wievielte Mal ist das heute?) und gehe einkaufen. Es ist voll, es ist heiß, es ist laut und ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch – und bekomme trotzdem irgendwie alles, was ich brauche. Auf dem Weg nach Hause passiert dann das, was nur im Film passiert und wo man wahlweise lacht oder laut aufseufzt: Meine Tüte reißt. Ihr Inhalt vermischt sich mit angetautem Schnee und Split. Ich atme. Klaube alles auf und stapfe weiter. Zu Hause angekommen muss ich dringend allein sein; in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit vier anderen Menschen fast ein Witz. Trotzdem gelingt es irgendwie (mein Geheimtrick: Essen machen. Dabei werde ich fast immer mit ziemlicher Sicherheit in Ruhe gelassen). Laute Musik besänftigt mich ein wenig, auch wenn die Aussicht darauf, noch einen inspirierenden Text zu schreiben, mir ein wenig Angst macht. Gestern habe ich es nicht geschafft, außerdem gefällt mir die Struktur nicht mehr. Das muss anders.
Einen tollen, berührenden Text muss ich mir dann nachher erdenken, nachdem das Kind in den Schlaf begleitet ist. Erholung? Feierabend? Fehlanzeige. Ich weiß, ich weiß. Ich bin selbst schuld. Zu viel durchgeatmet diese Woche, zu viel Energie versucht aufzuholen.
Alles auf los? Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Doch. Eines weiß ich: Es muss weitergehen in diesem Leben, das ich leben will – am liebsten glücklich, zumindest ab und zu. Stehenbleiben kann ich nicht, zurückgehen ist keine Option. Loslassen muss ich. Vor allem meine Ansprüche an mich selbst, aber das ist schwer. Ich will so vieles… „Du brauchst mehrere Leben“, das hat bisher nicht nur eine Freundin zu mir gesagt. Und oft fühlt sich das genau so an: Als ob ich mehrere Leben lebe. Oder manchmal auch: leben muss. Ein Arbeitsleben, ein Partnerinnenleben, ein kreatives Leben, ein Mama-Leben, ein Bonusmama-Leben. An Tagen wie heute, da ist mir das zu viel. An Tagen wie heute hört sich „alles auf los“ an, wie eine Drohung. Wie: Das erste Mal war nichts, versuch es nochmal. Letzte Chance! Nur mit noch mehr Gepäck auf den Schultern. Noch längeren To-Do-Listen. Noch mehr Verpflichtungen. Es fühlt sich an, als hätte ich so lange versucht, alles festzuhalten, dass meine Hände schmerzen. Aber jetzt loslassen… ist das nicht ein Schritt zurück? Oder ist es genau die Radikalität, die ich brauche? Wie die gerissene Tasche, ohne Vorwarnung: Jetzt ist genug. Es geht nicht mehr.
Mein Partner schaut mich an und fragt, ob er mich in den Arm nehmen darf. Und danach tut er das, was ich mir gewünscht habe, ohne, dass ich darum bitten muss: Er kümmert sich um unsere drei Kinder und verschafft mir Zeit. Zeit zum Denken, Zeit allein, Zeit in Ruhe. Zeit, um diesen Text zu schreiben.
Am Vormittag, im Zug, habe ich schon einen anderen Text geschrieben, ein Gedicht. Ein Teil daraus lautet:
dich
immer lieben
nicht nur dann
wenn alles leicht ist
[…]
dich
immer lieben
auch dann
wenn die schwere an uns zieht
Manchmal geht es auch ums Geliebt-werden. Dann, wenn man nicht weiß, was man tun soll. Wohin gehen, welchen Schritt als nächstes machen. Egal ob von Freund*innen, Partner*innen oder der Familie. Angenommen werden, wenn man sich selbst gerade gar nicht toll, erfolgreich oder liebenswert fühlt, das ist eine krasse Erfahrung.
Mein Partner bringt mir Geheimchips (Chips, die ich mit keinem Kind teilen muss) und zwinkert mir zu. Gleich bringe ich meine Tochter ins Bett. Schreibe diesen Text fertig. Und dann werden er und ich gemeinsam auf dem Sofa sitzen und ein Feierabend-Duplo essen. Ziemlich erschöpft, ein bisschen desillusioniert, aber: zusammen.
Der Text wird fertig sein, vielleicht nicht ganz so geschliffen, nicht ganz so inspirierend. Aber ehrlich. Und bereit, losgelassen zu werden von mir. Nachdem er mit der Hilfe eines anderen entstanden ist.
alles. auf. los. – und dann?
Vielleicht geht es genau darum: Ums nicht alleine sein. Alles auf los. Gemeinsam. Mit anderen, die da sind, wenn man selbst gerade nicht mehr weiter weiß oder keine Energie mehr hat. Es geht um Gleichgesinnte, um Partner*innen, um Vorbilder und um Menschen, die zwar nicht dein Gepäck für dich tragen können, aber mit dir unterwegs sind. Und die mit dir gemeinsam Pause machen, wenn du nicht mehr kannst.
Deswegen bin ich hier. Deshalb suche ich nach Worten, die ankommen und vielleicht ein bisschen was bewirken. Nicht, weil „am Ende alles gut ist“, sondern weil es am Ende gut ist, nicht allein zu sein.
[1] Brasch, Thomas: Was ich habe, will ich nicht verlieren. Aus: Kargo, 1977. Link: http://www.planetlyrik.de/lyrikkalender/thomas-braschs-gedicht-was-ich-habe-will-ich-nicht-verlieren/ [Letzter Zugriff: 16.01.2024]
(Dieser Text entstand für ein Mentoring Barcamp zum Thema „alles. auf. los“ der Universität Potsdam am 20. Januar 2024)